Kriegsenkel im Landkreis Donau-Ries
Das erste Treffen
Ende März erreichte mich eine Mail, in welcher eine Frau mir gegenüber Interesse an einem Gesprächskreis für Betroffene zum Thema Kriegsenkel zeigte.
Als Flüchtlingskind (Jahrgang 1956) wüsste sie nur wenig über ihre Eltern. Ihr Mann, der vier Jahre älter ist als sie, wäre ebenfalls ein Flüchtlingskind.
Dass die beiden aus einer mittelfränkischen Marktgemeinde stammen, tat meinem Bestreben nach einer Gesprächsgruppe im Landkreis Donau-Ries keinen Abbruch. Nachdem einige Nachrichten hin- und hergeschrieben wurden, vereinbarten wir für gestern Nachmittag ein unverbindliches Treffen, um uns kennenzulernen.
Ein paar Minuten später als vereinbart, sah ich mich schließlich zwei, auf den ersten Blick sympathischen Menschen gegenüber, die sich mir als Heidi und Ralf vorstellten. Dieser erste Eindruck bestätigte sich auch im Laufe der nächsten drei Stunden, denn es ergab sich nach einigen grundlegenden, persönlichen Daten, ein lockeres Dreiergespräch.
Im Gegensatz zu mir selbst, so erfuhr ich unter anderem, kristallisierten sich die Symptome bei Ralf erst relativ spät heraus, als er nach seinem aktiven Berufsleben mehr Zeit für sich selbst zur Verfügung hatte. Seine Familie stammte aus der ehemaligen DDR. Während eines geplanten Urlaubs fand sich der damals Achtjährige allerdings nicht, wie vermutet, an der Ostsee wieder, sondern in Westberlin. Er musste sich also von heute auf morgen in einer völlig neuen Umgebung, einem anderen Lebensraum, zurechtfinden. Alles Vertraute, Freunde und Verwandte, blieben zurück. So verlor er als Kind seine Heimat. Zwar nicht während eines aktiven Kriegsgeschehens, aber doch als Folge eines solchen.
Heidi hingegen, so habe ich es verstanden, hat seit Längerem den Wunsch, mehr über die Schrecken des zweiten Weltkrieges zu erfahren, da ihr nur sehr wenig über ihre Eltern aus dieser Zeit bekannt ist. Ihre Familie flüchtete aus der sowjetischen Besatzungszone der damaligen DDR. Sie liest sehr viel über diese Geschehnisse, das Drumherum. Sie schaut sich Filme und Dokumentationen darüber an, hört auch jede Menge Podcasts, die sich damit beschäftigen. Als sich bei ihrem Mann die bis dahin unbekannten Symptome zeigten, war sie, genauso wie er, völlig überrascht davon. Um die Auslöser dafür zu finden, war viel Zeit und externe Unterstützung notwendig. Doch nachdem sich die Ursachen dafür herauskristallisiert hatten, konnte man verstehen und damit arbeiten.
Über den Zeitraum von einem Jahr vor dem endgültigen Berliner Mauerbau im August 1961 flüchteten täglich mehrere hundert Menschen von Ost nach West. Viele Angehörige dieser traumatisierten Gesellschaft fühlen sich innerlich, genau wie Heidi, bis zum heutigen Tag wenig zugehörig und allein.
Für mich persönlich war diese erste Begegnung mit zwei Menschen aus der Kriegsenkelgeneration eine Bereicherung und auch Bestätigung für mein Bestreben, Betroffene zusammenzubringen, über ihre Erfahrungen zu sprechen, sich darüber auszutauschen und einander zuzuhören. Wir verabschiedeten uns mit dem Vorhaben, uns in absehbarer Zeit wieder zu treffen. Vielleicht gibt es bis dahin schon weitere Menschen, die Interesse am gegenseitigen Erzählen (Aufarbeiten) und Zuhören haben. Egal, auf welche Art sich bei den jeweils Betroffenen das Schicksal der Kriegsenkel bemerkbar macht.